Oral-History-Bestand

Im Jahre 2003 hat Giorgio Delle Donne eine Vortragsreihe zum Thema „Gedächtnis und Identität“ geplant und koordiniert. Die Vorträge fanden in der Bibliothek statt und bildeten die theoretische Grundlage für das Thema. Lokal ansässige und nationale Fachleute haben Fragen zur Beziehung zwischen Gedächtnis und Identität auf verschiedenen Niveaus hinsichtlich nationaler, politischer, religiöser, sprachlicher, geschlechtsspezifischer und sozialer Aspekt sowie der Emigration und multiethnischer Gesellschaften analysiert. Tatsächlich ist das individuelle und kollektive Gedächtnis kein riesiger Speicher, in dem alle erlebten Ereignisse einfach abgelegt werden, sondern vielmehr ein Archiv in ständiger Bearbeitung, wo Löschungen, Verbesserungen, Überarbeitungen durchgeführt werden, bedingt durch zahlreiche bewusste oder unbewusste Elemente, die die Prozesse der Identitätsbildung im ständigen Wechsel zwischen Zugehörigkeit und nicht Zugehörigkeit bestimmen. Begebenheiten, die die Erfahrungen geprägt haben, wie die Emigration, die Gegenüberstellung und Auseinandersetzung mit neuen und anderen Realitäten, die Desorientiertheit, die Identifikation und/oder Entgegenstellung, bedingen neue Überlegungen und kontinuierliche Weiterbearbeitung.

Die Verwendung mündlicher Überlieferungen in der historischen Forschung hat sich in Italien in den letzten fünfzig Jahren verbreitet, vor allem in der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Frauen und der Jugendbewegungen; Bewegungen, die eine jahrzehntelange politisch-soziale Wichtigkeit hatten, aber nur wenige schriftliche Zeugnisse hervorbrachten. Dabei gibt es zahlreiche Beispiele der „Mit-Forschung“, die von den Vertretern der politischen Bewegungen selbst durchgeführt wurden, häufig in offener Auseinandersetzung mit der akademischen Geschichtsforschung.

Ausgehend von diesem “militanten” Ursprung hat sich die orale Geschichte zunehmend mit theoretischen Fragen zu methodischen Problemen auseinandergesetzt: die Auswahl der Zeitzeugen, die Beziehung zwischen Interviewer und Interviewtem, die Führung des Interviews, seine Aufbewahrung, Katalogisierung, Bewertung, und anderes mehr. Gleichzeitig entstand eine dialektische Beziehung mit den Forschern, die die Gültigkeit der oralen Überlieferungen als glaubwürdige Quelle für die Geschichtsforschung zur Diskussion stellten, wobei die positiven Aspekte jener Eigenschaften betont wurden, die anfangs als Grenzen kritisiert worden waren, vor allem die Objektivität und Subjektivität, die Veränderungen der Aussagen im Laufe der Zeit, und die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters.

Die methodischen Probleme des Aufzeichnens eines Interviews wurden durch die Verbreitung der Magnetton-Aufnahmegeräte ab den vierziger Jahren und den daraus entwickelten tragbaren Rekordern gelöst. Die Verbreitung und Verkleinerung von Videokameras erlaubte in der Folge sogar die Aufzeichnung des Bildes und der Gestik des Interviewten. Es wurde somit immer einfacher Zeugnisse über die Biographien einzelner Personen zu sammeln, oder Erinnerungen, die verschiedene Leute über dieselben Ereignisse haben. Letzteres bestätigte, dass die „erinnerte Geschichte“ oft nicht mit der von den Historikern geschriebenen Geschichte übereinstimmt, die andere Wege der Produktion und Verbreitung geht. Individuelle und kollektive Erinnerungen gehen daher getrennte, aber miteinander verflochtene Wege, wobei sich Erstere innerhalb sozialer Gefüge der Erinnerung entwickeln, die auch von politischen und sozialen Ereignissen beeinflusst werden, die zeitlich auf die erinnerten Ereignisse folgen. Nicht nur die Geschichte also, sondern auch das Gedächtnis, seine Produktion, Wiedergabe und Aufbewahrung werden zu Elementen, über die man überdenken soll, indem man Zeugnisse über Geschehnisse sammelt, aber auch über die Intentionen, die Motivationen, und die Befriedigungen im Hinblick auf diese Geschehnisse.

Von grosser Wichtigkeit sind die möglichen Anwendungen der auf mündliche Überlieferungen basierten Forschung in der Didaktik der Geschichte, beginnend bei der Verfügbarkeit der Quellen im familiären Umfeld der Studenten, bis hin zum Hervorheben der Funktion der Erzählung innerhalb des familiären Umfeldes als erstes Identitätsmerkmal, von der geschlechtsspezifischen Identität zu jener anderer Bereiche.

Die zeitgenössische Geschichte setzt den „nennenswerten“ Themen, aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht, keine Grenzen. Die ungeheure Vielzahl an Themen wird von einer Vermehrung möglicher Quellen begleitet, wohl in dem Bewusstsein der Schwierigkeiten bezüglich des Archivierens, Katalogisierens und der Bereitstellung der Informationen, die dann wenn sie zu zahlreich und nicht katalogisiert sind, unbrauchbar werden – vergleichbar mit dem Fehlen der Informationen. Information wird somit eine logische Voraussetzung für Wissen, aber erst in dem Moment, in dem sie individuell verarbeitet und in einen sozialen Bezug gesetzt wird.

Die Interviews wurden ab 2004 von Giorgio Delle Donne geführt und von Manuel Chieregato und Sandro Saltuari auf Video aufgezeichnet. Der erste Block besteht aus 150 Interviews mit bedeutenden Zeugen aus den Bereichen Kultur, Schulen, Information, Kunst, Politik, des Widerstandes, und jugendlicher Vereinigungen.
Der Ablauf des Interviews entspricht den typischen „Geschichten aus dem Leben“ und umfasst einen Teil, der für alle Befragten gleich ist (Vorstellung, Biographie, etc.) und einen Teil, der typisch für jede Gruppe und Person ist.

Damit wurde eine erste Sammlung oraler Überlieferungen zusammengestellt, die von Wissenschaftlern und Lehrern von heute und morgen für die Forschung verwendet werden kann, und um die lokale Geschichte zu unterrichten. Die Sammlung soll Forschern und Studenten auch Anstoß geben, diesen Reichtum zu ergänzen und zu erweitern, mit der Garantie, dass ihre Interviews katalogisiert und aufbewahrt werden.